Einführung zur „Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht“
Der fragwürdige Zustand des evangelischen Kirchenrechts – den nicht erst der Kirchenkampf enthüllt hat – war seit Jahrzehnten in seinem Zeitschriftenwesen sozusagen mit Händen zu greifen.
Die „Zeitschrift für Kirchenrecht“ (1861-1917, seit 1912 „Deutsche Zeitschrift für Kirchenrecht“), die zugleich die besondere Aufgabe einer Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht zu erfüllen hatte, verstand diese Aufgabe je länger je mehr als eine im begrenzenden und entsagenden Sinne „akademische“ Angelegenheit. Als die großen Fragen des Kulturkampfs und der evangelischen Kirchenverfassungen erledigt schienen, brachte sie für die Praxis nur noch wenig, für Theorie und System des evangelischen Kirchenrechts nicht viel; und der verhältnismäßig überwiegende rechtshistorische Teil ihrer Arbeit wurde seit 1911 völlig in den Schatten gestellt durch die von stärkstem wissenschaftlichem Auftrieb getragene Kanonistische Abteilung der „Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte“.
Dagegen arbeiteten aus der Praxis und für die Praxis das „Allgemeine Kirchenblatt für das Evangelische Deutschland“ (1852-1936) und das „Preußische“, seit 1934 „Deutsche Pfarrarchiv“ (1909-1936). Das Allgemeine Kirchenblatt bot eine unschätzbare Sammlung der landeskirchlichen Rechtsquellen und zugleich des Materials der Eisenacher Konferenz und des Kirchenbundes, deren amtliches Publikationsorgan es nacheinander war. Das Pfarrarchiv diente als Vermittler des Materials des „kirchlichen Alltags“, vor allem aus der Rechtsprechung und den Erlassen und Verfügungen der kirchlichen Verwaltung, an alle kirchlichen und staatlichen Behörden und an die Geistlichen. Trotz eines verdienstlichen Abhandlungsteils wollte das Pfarrarchiv der Wissenschaft gegenüber ausdrücklich nicht mehr als eine Quellensammlung sein.
Von 1917-1937 war das evangelische Kirchenrecht im deutschen – wie übrigens bis heute auch im ausländischen – wissenschaftlichen Zeitschriftenwesen heimatlos. Für die an vielen Orten zerstreuten kirchenrechtlichen Abhandlungen dieser Zeit gibt es nicht einmal einen Literaturnachweis.
Diese Lücke hat zeitweilig (1937-1942) das „Archiv für evangelisches Kirchenrecht“ zu schließen unternommen, obwohl es sich in erster Linie als Fortsetzung des Allgemeinen Kirchenblatts und des Pfarrarchivs bezeichnete. In seinem wertvollen Abhandlungsteil hat es die wissenschaftliche Problemwelt des evangelischen Kirchenrechts in der Tiefe und in der Breite anzugreifen unternommen, allerdings gerade die aktuelle Problematik des Kirchenkampfs in Dokumenten und Abhandlungen nur unzulänglich.
Die so seit 1942 bestehende Lücke ist seit 1945 immer empfindlicher fühlbar geworden, und zwar hauptsächlich in drei Richtungen:
Am dringendsten verlangt die Praxis nach einem Hilfsmittel für ihre Arbeit, wie sie es früher im Pfarrarchiv besessen hat. Das Allgemeine Kirchenblatt wird heute durch das „Amtsblatt der Evangelischen Kirche in Deutschland“ ersetzt. Eine kürzlich im Rahmen des Amtsblatts erschienene „Rechtsquellennachweisung für das deutsche evangelische Kirchenrecht und das deutsche Staatskirchenrecht von 1945-1949“ wird, soweit der Bestand reicht, den Beziehern der neuen „Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht“ zur Verfügung gestellt werden. Der Stoff aus der Praxis der kirchlichen Verwaltung und aus der Rechtsprechung dagegen wird von der neuen Zeitschrift je nach seiner Eigenart im Einzelabdruck oder zusammengestellt nach sachlichen Gesichtspunkten oder zumindest durch Fundstellennachweisung zugänglich gemacht werden. Die Herausgeber rechnen hier mit der alterprobten Mitarbeit der kirchlichen Behörden und ihrer Mitglieder.
Für die grundsätzlichen, seit dem Kirchenkampf weithin neu gestellten und brennenden Fragen der kirchlichen Neuordnung und des Verhältnisses zum Staat ist das reiche Schrifttum der letzten Jahre leider ganz andere Wege gegangen. Eine Fülle zum Teil wertvollster Äußerungen ist in Broschüren und Denkschriften und vor allem in der Vielzahl der kirchlichen Zeitschriften zerstreut. Dieses Schrifttum ist damit unübersehbar geworden und geht so zu einem erheblichen Teile einer fruchtbaren und für die Neugestaltung des Kirchenrechts notwendigen Auseinandersetzung verloren. Die praktische Arbeit der landeskirchlichen Neuordnung geht so notgedrungen vielfach ihre eigenen Wege ohne Rücksicht auf Erfahrungen und Gedanken, die in den Schwesterkirchen gewonnen sind. Hier soll die Zeitschrift den schon vorliegenden Stoff wenigstens durch Nachweisungen und Berichte übersehbar machen, vor allem aber die weitere Auseinandersetzung auf einem gemeinsamen Boden zusammenführen.
Die rein wissenschaftliche Arbeit endlich hat sich seit Jahrzehnten eines zusammenfassenden Organs entwöhnt. Ihre wichtigen Einzelerscheinungen sind schon lange zerstreut gewesen, und dabei ist es seit 1945 geblieben. Darunter hat nicht nur ihre Erreichbarkeit für den Benutzer, sondern auch ihre eigene Ergiebigkeit gelitten. Für die gemeinsame Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Antrieben der Vergangenheit – es bedarf kaum der Nennung der Namen Sohm und Stutz – und den seit dem Kirchenkampf brennenden praktisch-grundsätzlichen Fragen der Gegenwart und nicht zuletzt für die Zusammenarbeit von Theologen und Juristen auf kirchenrechtlichem Gebiet fehlt das wissenschaftliche Organ. Die „Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht“ wird vor allem auch um diese Aufgabe bemüht sein.
Christhard Mahrenholz Rudolf Smend Ernst Wolf
(Aus: ZevKR 1 (1951) S. 1-3).